Meine persönlichen Erfahrungen mit der Angst

Das Erkennen der Angst

Meine verborgenen Ängste werden mir immer bewusster, je klarer ich begreife:

Meine ganz persönliche Innenwelt und die Welt dort draußen mit all den menschenunwürdigen Geschehnissen unterscheiden sich in tiefsten Kern nicht grundsätzlich.

In meiner Innenwelt spielt sich das gleiche Grundmuster ab, wie bei den rücksichtslosesten Menschen draußen, nämlich ICH ist immer wieder das Wichtigste auf der Welt.

Alle anderen Unterschiede zwischen uns Menschen sind nur oberflächlich, begründet durch die Umstände, in denen der Einzelne lebt, aber in unserer inneren Natur, in der Angst um das ICH, sind wir gleich. Kein Mensch ist von Grund auf besser als die anderen. Jeder kann das für sich erkennen.

Ich muss mir eingestehen, dass ich in meinen Fantasien manchmal unerbittlich und auch gewalttätig bin. Ich kann nicht dafür garantieren, dass ich unter ärmeren oder gewalttätigeren oder vom Reichtum besessenen Umständen so relativ friedlich geblieben wäre. Ich erinnere mich auch gut an Zeiten, in denen ich Gewalt offen gerechtfertigt habe und zwar je nach persönlicher Lebenslage, z.B. als Soldat und Christ gegen die Kommunisten, als Student und Atheist gegen die Kapitalisten usw.

Ich sehe immer deutlicher: Wenn ich nicht achtsam gegenüber dem automatischen Reagieren des ICH bin, setze ich in meinem Lebensalltag meine Interessen und Bedürfnisse auch auf Kosten anderer durch. Das Geld bestimmt manchmal mein unfreundliches Verhalten gegenüber anderen Menschen, oder ich rede schlecht über sie oder trickse sie mit Raffinesse aus, damit sie meine Wünsche erfüllen. Oder ich halte mich insgeheim für einen besseren Menschen, trotz oder wohl gerade wegen des Ideals von Gleichheit, hinter dem man die Überheblichkeit so gut verstecken kann.

Als mir diese Zusammenhänge zwischen dem ICH, der Angst und meiner häufigen Lebensunzufriedenheit bewusst wurden und ich für meine Person die Notwendigkeit anders zu leben einsah, öffneten sich innerlich zwei „Räume":

  1. ein ungeheuer befreiendes Gefühl eines tiefen Verstehens macht sich breit und berührt mich so oft.
  2. Manchmal bekomme ich aber auch mehr Angst, oder genauer gesagt, spüre ich meine tiefsitzenden existentiellen Ängste intensiver:

Die Beobachtung der Angst

Diese Existenzängste sind sehr heftige Ängste, die ich wie die meisten Menschen lange Zeit nicht hochkommen lassen wollte. Wir alle wollen doch lieber den Raum der Freiheit betreten und nicht in den Raum der Angst gehen. Aber trotz der Sehnsucht nach dem Angenehmen und dem Vermeiden-Wollen der negativen Gefühlen, ist mir doch vollständig klar:

Wenn ich vor einer Angst wegzulaufen versuche, wird sie immer größer. Der Kampf gegen die Angst verbraucht alle verfügbaren Energien.

Das habe ich bei mir selbst und bei Hunderten von Patienten genauso wie im Freundes- und Bekanntenkreis erlebt.

Das gilt nicht nur für die „kleinen" alltäglichen Ängste, sondern auch für die tiefliegenden existentiellen Ängste, aus denen heraus die Alltagsängste entstehen. Weil ich also für mich zweifelsfrei erkannt habe, dass alle Ängste, egal ob „klein" oder „groß", auf Dauer gesehen zunehmen, wenn ich sie zu bekämpfen versuche, bleibt mir gar nichts anderes übrig, als mich diesen Ängsten zu stellen, wenn immer sie auftauchen. Das tue ich nicht aufgrund besonderer psychologischer Konzepte, sondern weil ich mich einfach nicht mehr davor drücken kann, ohne dass die Angst und ihre Nebenwirkungen noch mehr zunehmen. Denn wenn man diesen Angstmechanismus durchschaut, kann man die Angst immer weniger verdrängen. Stattdessen beobachte ich zunehmend wie selbstverständlich, was innerhalb und außerhalb von mir gerade geschieht, immer wenn ich Anzeichen von Angst in mir spüre, egal ob sie die verdeckte Form von Stress, Unzufriedenheit, Gier usw. annehmen oder ob die Ängste als gesundheitliche oder soziale Bedrohung auftreten.

Um in dem Bild der beiden inneren Räume zu bleiben, bedeutet dies: Wenn der Raum der Angst sich geöffnet hat, muss ich ihn auch durchschreiten und der Tatsache ins Gesicht schauen, dass ich bereits drin bin. Der Raum der Freiheit öffnet sich erst hinter dem Raum der Angst, durch den ich gehen muss. Wenn ich versuche aus dem Raum der Angst zu fliehen, wird er immer größer; unermesslich weit kann er werden, wenn ich ihm entkommen will.

Indem ich mich der Angst und allen ihren Erscheinungsformen, die ich als Unwohlsein empfinde, zuwende, ohne ausweichen zu wollen, entdecke ich,

Einsichten in die Angst

Aber seit es mir nicht mehr möglich ist, eine Angst, die mir bewusst wird, wieder wegzuschieben oder zu verdrängen und seit mir nichts anderes übrig bleibt, als meine Ängste ohne Widerstand zu beobachten, wenn immer sie auftauchen, kann ich immer deutlicher erkennen,

Ich beobachte die auftauchenden Ängste hartnäckig und gründlich, ohne sie bekämpfen, vermeiden oder mir ausreden zu wollen. Aber manchmal muss ich feststellen, dass ich doch wieder in den alten Widerständen gegen die Angst gefangen bin. Gelegentlich finde ich meine innere Ruhe komischerweise wieder, wenn ich noch einmal lese, was ich über die Angstbewältigung geschrieben habe. Angstgefühle können so heftig sein, dass sie den Zugang zur Einsicht, die schon einmal vorhanden war, versperren können. Letztlich mache ich immer wieder die befreiende Entdeckung, dass sich alle Ängste auflösen, auch die existentiellen, wenn ich ihnen nicht mehr ausweiche. Denn dadurch enthüllen sie sich als Produkte des Denkens und nicht als wirkliche Bedrohungen des Lebens.

So erkenne ich,

Angst ist nicht intelligent

Eine ganz besondere Bedeutung hat für mich die Entdeckung, dass ein grundlegender Unterschied darin besteht, ob ich in einer wirklichen Gefahrensituation Angst habe oder ob ich mir eine mögliche Gefahr nur vorstelle. Es ist verwirrend, dass für beides derselbe Begriff „Angst" benutzt wird. Wenn Körper und Geist sich auf eine echte Gefahrensituation einstellen, ist die Intelligenz des Organismus lebendig. Wir handeln unmittelbar in der wirklichen Gefahr, wenn wir z.B. von einem Hund angegriffen werden. Angst ist dagegen ein Zustand, in den ich gerate, wenn ich eine Gefahr vermeiden möchte, die noch gar nicht existiert, sondern von der ich mir vorstelle, dass sie kommen könnte. Dann fange ich an zu denken, was ich tun könnte, falls die Gefahr eintritt. Dieses Denken kann ich beliebig lang fortführen und wiederholen, es hat mit wirklicher Gefahr nichts zu tun. Nachdem mir diese Unterscheidung bewusst wurde, stelle ich fest, dass fast alles, was ich früher als Angst bezeichnet habe, diesen gedanklichen Vorstellungen entspringt.

Außerdem entdecke ich, dass diese Vermischung von intelligenter Reaktion in echter Gefahr mit der Reaktion auf vorgestellte Gefahren ein wesentliches Herrschaftsmittel aller Autoritäten ist. Denn den Menschen wird mit Verweis auf die intelligente Reaktion des Organismus eingeredet, dass Angst eine sinnvolle Reaktion auf eine Gefahr sei, wobei wirkliche Gefahren und erdachte Ängste meistens nicht unterschieden werden. Wenn die Menschen in dieser Verwirrung nicht die Möglichkeit sehen, den Angstmechanismus des Denkens und Erinnerns vollständig still zu legen, müssen sie sich wegen der Angst immer wieder von neuem an die Psychospezialisten oder an Priester oder andere Propagandisten von Hoffnung auf Später wenden, die uns dann helfen sollen, mit der Angst fertig zu werden. Aber es gelingt, wenn überhaupt, nur für den aktuellen Ausdruck von Angst. Wenn man nicht an die Wurzeln der Angstproduktion geht, kommen immer wieder neue Ängste.

Andersleben ohne Angst

Andersleben können wir in jedem Moment unseres Lebens beginnen. Wir brauchen uns nicht zu wundern, dass wir es nicht „durchhalten" können, denn die Muster des alten Lebens voll Angst und Egoismus sind so tief verwurzelt, dass wir vermutlich noch oftmals in ihre Abhängigkeit geraten. Aber das Leben lässt sich nicht nach guten und schlechten Zeiten aufrechnen, auch wenn viele Menschen so denken. Es zählt einzig und allein der Moment des Jetzt, der einzige, in dem wir wirklich leben. In jedem Moment entscheidet es sich neu, ob wir harmonisch in Achtsamkeit und Liebe leben oder in der selbstisolierenden Sorge und Angst um das eigene ICH. Das geschieht unabhängig davon, ob ich es bemerke oder nicht. Aber indem ich dafür sensibel bin, sind die harmonischen Momente nicht mehr nur „Zufallsprodukte", sondern ich öffne mich für die Geschenke, welche die Liebe für mich bereit hält.

Diese andere Art zu leben ist ohne Mühe, ohne Kampf, ohne Anstrengung. Dabei ist wird man aber nicht träge, sondern man ist energiegeladen, weil die Energie nicht mehr verschwendet wird in der Bekämpfung der Angst.

Immer wieder stelle ich fest, dass sich meine Ängste, gerade auch die großen existentiellen Ängste, wie von allein auflösen, bzw. gar nicht erst entstehen, wenn ich im intensiven positiven Kontakt mit Freunden bin. Aus dieser Beobachtung entstand zusammen mit Freunden die Initiative Andersleben für Menschen, die bereit sind, sich eigenverantwortlich ihren Ängsten zu stellen und Geist und Herz für den Duft der Liebe zu öffnen, die schon da ist und weder gesucht werden muss noch gegeben werden kann.

nach oben
nav